Was passiert, wenn wir graben?
„Was passiert eigentlich, wenn wir den Boden umgraben?“ – Diese Frage wird oft gestellt, wenn es um die Vorteile des No-Dig-Gärtnerns geht. Und sie ist absolut berechtigt. Für viele Menschen, die ihr Leben lang umgegraben haben, ist es schwer zu akzeptieren, dass diese Praxis nicht nur überflüssig, sondern sogar kontraproduktiv sein kann.
Inhalt
Was passiert, wenn wir graben?
Die meistgenannten Gründe fürs Umgraben sind: die Bodenstruktur verbessern und organisches Material einarbeiten. Wenn wir jedoch verstehen, wie Boden tatsächlich funktioniert, erkennen wir: Gesunder Boden bildet seine Struktur selbst und versorgt sich von alleine mit organischer Substanz.
In natürlichen Ökosystemen wird nirgends gegraben – und doch produzieren diese enorme Mengen an Biomasse. Sie regulieren sich selbst, kontrollieren Schädlinge und ernähren sich durch Photosynthese, während sie gleichzeitig Böden erhalten, die für die jeweilige Pflanzenwelt ideal sind.
Um also zu verstehen, was beim Graben passiert, müssen wir zunächst verstehen, wie gesunder Boden in der Natur funktioniert.
Gesunder Boden
Was genau ist gesunder Boden? Lange Zeit wurde gelehrt, gesunder Boden bestehe aus Sand, Schluff, Ton und organischer Substanz – in einem möglichst ausgewogenen Verhältnis.
Moderne Wissenschaft zeigt jedoch: Boden ist viel mehr als das. Gesunder Boden ist ein lebendiges Ökosystem.
Ein Ökosystem ist eine Gemeinschaft von Organismen, die miteinander und mit ihrer Umgebung interagieren. In unserem Fall sind Sand, Schluff und Ton das Umfeld, und die organische Substanz besteht aus zersetzter Pflanzenmasse, Ausscheidungen und Milliarden von Mikroorganismen (einige größer, viele mikroskopisch klein).
Nahrungsnetze im Boden
In der Schule lernen wir über Nahrungsketten – einfache Darstellungen, wer was frisst. Später lernen wir über Nahrungsnetze, die die tatsächliche Komplexität zeigen, denn die meisten Lebewesen haben mehrere Fressfeinde und Nahrungsquellen.
Alle Nahrungsketten haben eines gemeinsam: Pflanzen. Nur Pflanzen können Masse „aus dem Nichts“ erschaffen – sie sind sogenannte Primärproduzenten. Jedes Ökosystem auf der Erde hängt direkt oder indirekt von Pflanzen ab – das Bodenökosystem ist keine Ausnahme.
Ökologische Pflege – Hausputz im Lebensraum

Für die Organismen im Boden ist es von Vorteil, dass es den Pflanzen gut geht – schließlich sind sie ihre Nahrungsquelle. Tiere fressen Blätter, Stängel, Früchte, Samen, Nektar oder sogar Rinde. Manche Pflanzen werden ganz gefressen – und dennoch wird der Lebensraum durch dieses „Grazing“ erhalten.
Invasive Pflanzenarten können sich vor allem dort durchsetzen, wo sie keine natürlichen Fressfeinde haben. Tiere bestäuben außerdem Pflanzen und verbreiten ihre Samen – so sorgen sie für zukünftige Generationen.
Kommt es zu einem Schädlingsbefall oder einer Krankheit, reagieren andere Organismen im System darauf, um die Pflanzen zu schützen. Darum sieht man in natürlichen Ökosystemen selten großflächige Schäden.
Sogar Bäume können über unterirdische Pilznetzwerke miteinander kommunizieren. Wird ein Baum befallen, senden benachbarte Bäume Signale aus und erhöhen ihre Abwehrstoffe – nicht aus Altruismus, sondern zum Schutz des gesamten Systems, in dem auch ihre Nachkommen leben sollen.
Dynamisches Gleichgewicht
Ein Begriff, der oft verwendet wird, um gesunde Ökosysteme zu beschreiben, ist das dynamische Gleichgewicht. Es bedeutet, dass ein System stabil ist, aber gleichzeitig anpassungsfähig: an Wetter, neue Krankheiten oder moderate Störungen.
Solche Systeme basieren auf Vielfalt. Je mehr Arten und Organismen es gibt, desto robuster ist das System.
Der Boden als Ökosystem
Wenn wir diese Prinzipien auf das Bodenleben übertragen, wird deutlich: Auch der Boden ist ein eigenständiges Ökosystem – allerdings schwerer zu erfassen, da wir ihn meist nicht „sehen“.
Dabei gehört Boden zu den wichtigsten Ökosystemen unseres Planeten. Er unterstützt fast alles Leben an Land, ist der größte Kohlenstoffspeicher der Erde und filtert Wasser, schützt vor Überschwemmungen und mehr.
Gesunde Gartenböden gehören zu den artenreichsten Lebensräumen überhaupt – eine Handvoll gesunder Erde enthält mehr Lebewesen als jemals Menschen auf der Welt gelebt haben.
Wie alle Ökosysteme will auch der Boden sich selbst erhalten und den Pflanzen ein gutes Umfeld bieten. Er „will“ keine Schädlinge – er will Struktur und Gleichgewicht.
Der Boden arbeitet für unsere Pflanzen
Kleinstlebewesen bewegen sich im Boden, verbinden Bodenpartikel zu stabilen Aggregaten und schaffen so Sauerstoffporen und Wasserhaltevermögen.
Mikroorganismen enthalten Enzyme und Säuren, die Nährstoffe aus dem Boden herauslösen – ein kontinuierlicher Prozess, der den Pflanzen zugutekommt. Gesunde Böden haben dadurch langfristig genügend Nährstoffe, oft für viele Jahrhunderte.
Pilzhyphen durchziehen das Erdreich wie ein unterirdisches Netzwerk. Sie erschließen winzige Wasser- und Nährstoffdepots und geben sie an Pflanzen weiter – wie ein sekundäres Wurzelsystem.
Was passiert wirklich, wenn wir graben?
Wenn wir graben, zerstören wir diese Strukturen. Wir durchtrennen Pilznetzwerke, zerstören Mikrohabitate, reißen Luftporen auf und bringen Mikroorganismen an die Oberfläche – wo viele durch Sonnenlicht und Luftkontakt sterben.
Das gesamte Ökosystem wird durcheinandergebracht – vergleichbar mit einem Wald, in dem plötzlich alle Bäume gefällt werden.
Wir nehmen dem Boden damit die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren und die besten Bedingungen für unsere Pflanzen zu schaffen.
Was passiert, wenn wir aufhören zu graben?
Die gute Nachricht: Das Bodenleben regeneriert sich schnell. Ein kleines Loch kann sich in wenigen Tagen erholen – ein großes Feld braucht ein paar Jahre.
Doch wenn wir jedes Jahr graben, schwächen wir den Boden systematisch. Die Lösung: Aufhören zu graben – und dem Boden die Möglichkeit geben, sich selbst zu heilen.
Mit jeder Saison wird er gesünder, lebendiger – und unsere Pflanzen profitieren davon. So können wir auch loslassen, was wir früher für „richtig“ hielten – und unseren Garten im Einklang mit der Natur bewirtschaften.

Matteo Müller ist der Chefredakteur der Gärtnerwelt. Mit einer tiefen Affinität zu allem, was grün ist und wächst, hat Matteo eine tief verwurzelte Leidenschaft für den Gartenbau entwickelt. Er verfügt über eine einzigartige Kombination aus akademischem Fachwissen in Umweltwissenschaften und praktischer Gartenerfahrung. Seine Mission ist es, die Leser zu inspirieren und über nachhaltige Gartenpraktiken aufzuklären und ihnen zu helfen, ihre Grünflächen in blühende, lebendige Heiligtümer zu verwandeln.











